Liebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten!
Auf dem flimmerfreien 100-Hertz, 17 -Zoll-Bildschirm erscheint in großen Lettern:
Gratulation. Sie haben sich erfolgreich durch die dreizehn verschiedenen, aufeinander aufbauenden Level des Spieles gekämpft, auch wenn manche von ihnen manches Level mehrfach in Angriff nehmen mussten. Aber - wie in jedem guten Adventure-Game - Ihnen standen ja ausreichend Leben zur Verfügung, und über die entsprechende Tastenkombinationen durften Sie sogar hin und wieder abspeichern und eine Pause einlegen oder eventuell ein ganzes Level wiederholen, bis sie es dann endlich bewältigt hatten. Obwohl das Spiel nicht einfach erschien, haben nur wenige ihren Vorrat an Leben wirklich aufgebraucht und mussten das Spiel vorzeitig verlassen oder hängen noch in einem niederen Level. Auch denen wünsche ich viel Erfolg.
Sie aber, die sie das Spiel nun erfolgreich beendet haben, haben dabei in den unteren Leveln zunächst mehr oder weniger erfolgreich die Voraussetzungen, Hilfsmittel, Werkzeuge, also die Waffen gesammelt, die sie zum weiteren Bestehen des Abenteuers auf den höheren Leveln benötigten, denn die Anforderungen wurden schließlich von Runde zu Runde höher, auch wenn der Rahmen vergleichbar blieb. Zum Schluss haben sie schließlich die so begehrten Punkte erhalten, die nun angeben, wie gut sie das Spiel gespielt und beendet haben. Und auch wenn. sich nicht jeder von ihnen in die High-Score Liste eintragen kann: Sie erhalten Ihr Abiturzeugnis, Sie sind aus dem Spiel "Schule" ins Leben entlassen.
Schule als Video-Game, als virtuelle Welt? Da bleiben Fragen offen: Was ist mit denen, die das Spiel freiwillig beendet haben? Hatten sie einfach keine Lust mehr? Waren sie diesem Spiel nicht gewachsen und probieren nun ein anderes mit anderen Anforderungen? Oder hatten sie die - ich denke: bemerkenswerte - Fähigkeit, sich der Eigendynamik des Spieles entziehen zu können?
Weiterhin: Welches Spiel werden Sie nun spielen? Sie haben die freie Auswahl. Es warten auf dem Markt leichte und schwere, billige, preiswerte teure und überteuerte Spiele, Massenware und exklusive Einzelanfertigungen. Aber wie Sie sich auch immer entscheiden: denken Sie dabei, vielleicht vorrangig, auch an den Spielspaß. Und: Lassen Sie sich nicht von den virtuellen Monstern erschrecken und einschüchtern.
Apropos: Wer waren eigentlich all die Bösewichte und Monster im jetzt beendeten Spiel? Danke, ich kann mir Ihre Antwort denken, lassen wir das.
Denn spätestens hier zeigt der Vergleich doch seine Schwächen und gelangt an seine Grenzen, verlassen wir die Fiktion, wenden wir uns der realen, der aktuellen Situation zu.
In wenigen Minuten erhalten Sie ihr Abiturzeugnis und sind von und aus der Schule entlassen. Eine sicherlich kritische, vielleicht aber auch schon jetzt eine mystifizierende Rückschau auf das Vergangene einerseits und der zwischen banger Erwartung und optimistischer Zuversicht schwankende Blick in die Zukunft andererseits füllen ihren Kopf oder liegen ihnen zumindest irgendwie im Magen. Aber - zwischen Vergangenem und Zukünftigen liegt, viel wichtiger: Das Hier und Heute, Freude und Zufriedenheit über das Erreichte, die Situation zum Feiern, zum Genießen, zum Leben und Er-Leben.
Genau genommen: keine gute Situation für viele Worte. Dennoch: der Ablauf dieser Feierstunde verlangt die Festrede, und es war diesbezüglich ihr Wunsch (ich hoffe, nicht nur als späte Rache für die E-Phase, in der Sie hier oben standen und von mir anschließend gnadenlos verrissene Reden halten mussten), dass ich anlässlich der Überreichung der Abiturzeugnisse noch einmal ein das Wort an Sie richte. .
Selbstverständlich darf dabei der Rückblick auf das Zurückliegende nicht fehlen. Dieser soll aber kein Nachruf werden, da ein solcher zumeist aus zwar gutgemeinter, aber dennoch (oder gerade deswegen) peinlicher Lobhudelei besteht. Auch liegt es mir nicht, zu beschönigen, und gerade einer Feierstunde wie dieser steht Unehrlichkeit - um nicht zu sagen: schleimige Verlogenheit- schlecht zu Gesicht. Blicken wir also ehrlich auf Begebenheiten und die Entwicklungen in den vergangenen Jahren zurück:
Hoffen wir, dass in dieser Zeit nicht generell, wie leider oft beobachtet,
- die Nachahmung der Kleidung des Freundes durch das permanente Nachlaufen des neuesten Modetrends ersetzt ist,
- die Orientierung an den von BRAVO und ähnlichen Medien vermittelten Werten durch die kritiklose Akzeptanz des Zeitgeistes kompensiert wird,
- das verkrampfte Streben nach einer besseren Note in den Klassenarbeiten (und sei es mit unlauteren Mitteln) zur Orientierung auf eine möglichst einträgliche berufliche und gesellschaftliche Position (und sei diese unter ausgiebiger Benutzung der Ellenbogen erlangt) gewichen ist, .
- das latente Desinteresse an Klassenbelanqen, der Arbeit in der GSV oder dem Einsatz für die Schule über die unterrichtlichen Verpflichtungen hinaus zur Ignoranz des politischen und gesellschaftlichen Geschehens überhaupt eskaliert ist.
Hoffen wir stattdessen - sicher bin ich mir da leider nicht - dass wir, das Kant-Gymnasium, ja, die Schule überhaupt, das geleistet haben, was uns aufgegeben und trefflich im §1 des Schulgesetz für Berlin formuliert ist:
"Aufgabe der Schule ist es, alle wertvollen Anlagen der Kinder und Jugendlichen zur vollen Entfaltung zu bringen und ihnen ein Höchstmaß an Urteilskraft, gründliches Wissen und Können zu vermitteln. Ziel muss die Heranbildung von Persönlichkeiten sein, welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus und allen anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entschieden entgegenzutreten sowie das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der Grundlage der Demokratie, des Friedens, der Freiheit, der Menschenwürde und der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten. Diese Persönlichkeiten müssen sich der Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit bewusst sein, und ihre Haltung muss bestimmt werden von der Anerkennung der Gleichberechtigung aller Menschen, von der Achtung vor jeder ehrlichen Überzeugung und von der Anerkennung der Notwendigkeit einer fortschrittlichen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie einer friedlichen Verständigung der Völker."
Über die Richtigkeit und Wichtigkeit dieser Ziele und Vorstellungen kann man, auch der aktuellen Wahlergebnisse aus Sachsen-Anhalt, aber auch der Tendenzen, die sich in unserer unmittelbaren Umgebung, in öffentlichen Verkehrsmitteln, am Münsingerplatz vor dem Spandauer Rathaus, ja, auch hier in den Räumen unseres Refugiums Kant- Gymnasium, abspielen, nicht streiten, sehr wohl aber darüber, wie weit wir sie in Ihnen so verwirklicht haben, dass Sie fähig und bereit sind, Konsequenzen zu ziehen.
Hoffen wir darüber hinaus, dass wir mit der Vermittlung des vom Rahmenplan geforderten Stoffes, der trotz aller Schwächen und von Ihnen zu Recht kritisierten Inhalte doch zum Verständnis der Grundlagen dienlich ist, die Sie zum Bestehen in unserer einerseits modernen, andererseits aber von einer langen Tradition geprägten Welt benötigen, erfolgreich waren.
Schön wäre es auch zu wissen, dass wir Ihnen in ganz alltäglichen Situationen nach bestem Wissen und Gewissen mit gutgemeinten und von Ihnen angenommenen, nicht missverstandenen oder bewusst missachteten Hinweisen zu dem, was man "Lebensweisheit" nennen könnte und was Ihnen helfen und Ihre Einstellungen beeinflussen sollte, beratend mit guten Worten zur Seite hätten stehen können. Ich befürchte, genau das war in manchen wichtigen Situationen gerade nicht der Fall. Sicher ist das einer der Gründe, weshalb ein nicht unerheblicher Teil Ihres Jahrganges nach herber Kritik am "Schulklima" im Kurssystem die Schule verlassen hat.
Hier war pädagogisches, aber einfühlsames oder einfach nur menschliches Handeln gefordert, doch bei uns stehen Worte höher im Kurs als Taten, Theoriebildung höher als praktische Anwendung, wenngleich allen die Problematik doch klar ist: Wie müßig, die Bedeutsamkeit der Feststellung, dass die gebrochen-rationale Funktion mit der Funtionsgleichung x/(x-2) an der Stelle x=2 eine Polstelle hat, mit der Erfahrung, dass ein Mitschüler, ein Mitmensch, in einer unerwarteten Situation überraschend nicht geahnte menschliche Qualitäten, die man ihm gar nicht zugebilligt hätte, hat, zu vergleichen. . .
Hoffen wir, dass zumindest unbewusst vielen von Ihnen dennoch deutlich geworden ist, dass Schule auch ein Ort des HandeIns, des Lebens und Er-Lebens ist. Mir wird das immer wieder in gemeinsamen Unternehmungen besonders deutlich, sei es an Projekttagen; an Wandertagen, beim gemeinsamen Frühstück, auf Klassenfahrten, sei es in die Provinz nach Dessau oder die große, weite Welt wie London, in Arbeitsgemeinschaften, beim Go- oder Schachspielen, bei einem oder auch zwei Pint im .Spaniards lnn" oder einer (man verzeihe mir die Schleichwerbung) Manner-Schnitte zwischen zwei Leistungskursstunden. Ich denke, wenn gelegentlich von dem schon erwähnten obskuren und nicht näher definierten "Klima" einer Schule gesprochen wird, dann ist dieses auch durch das bestimmt, was zusammen gelebt und erlebt wird, nicht nur durch das, was auf einer theoretischen Ebene indirekt zu vermitteln versucht wird.
Und auch im schon zitierten §1 des Schulgesetzes wird auf Handeln Wert gelegt: der Ideologie des Nationalsozialismus entschieden entgegentreten, d.h. sie nicht nur rational und wortgewaltig ablehnen, sondern bekämpfen, das gesellschaftliche' Leben auf der Grundlage der Menschenwürde gestalten, d.h. nicht nur Menschenrechtsverletzungen bedauern, sondern selbst dagegen aktiv werden, die gesellschaftlichen Verhältnisse fortschrittlich gestalten, d.h. nicht nur auf Stammtischniveau herumzukriteln, sondern persönlich am Aufbau einer Gesellschaft arbeiten, in der es z.B. keine Fremden, wohl aber Fremdwörter, z.B. Krieg, Hass, Angst, Diskriminierung, Unfreiheit gibt.
Hoffen wir also zusammenfassend, dass manches von dem Vorgelebten, Vermittelten, Unterrichteten und Gelehrten der letzten Jahre von Wert für Sie ist, Sie also aus der vergangenen Zeit hier einen Nutzen werden ziehen können. Dann fiele es uns einerseits leichter, Sie gehen zu sehen, andererseits erlaubte es uns, die Möglichkeiten im Lehrberuf optimistischer zu beurteilen und hoffnungsvoller in die Zukunft, auf die jetzt noch von uns unterrichteten Schülergenerationen, zu schauen, um es dann für diese vielleicht ein wenig besser machen zu können. Vielleicht stehen uns dann auch endlich wieder junge Kollegen zur Seite, so dass die in einer Abiturkonferenz gefallene Bemerkung "für unsere jüngeren Kollegen" nicht mehr mit der leider treffenden Replik "also, den unter 50jährigen!" kommentiert werden kann.
Und damit sind wir beim Blick nach vorn, genug des Rückblickes: Die Zeit der Worte von uns an Sie ist sowieso unwiederbringlich abgelaufen, was zu sagen war, ist gesagt. Ich glaube nicht, dass Sie deswegen viel vermissen werden, und ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt viel zu vermissen gibt. Denn nach dem Wort, dem wir gerade in der Ausbildung am Gymnasium so großen Wert beimessen, kommt noch etwas Wichtigeres, ebenso wie die Metaphysik, d.h. die Philosophie, dem Wort nach nach der Physik kommt, ihr aber durchaus nicht nachsteht:
"Der Worte sind genug gewechselt Lasst mich auch endlich Taten sehn!"
lässt Goethe den Theaterdirektor im "Faust" verlangen, und ich denke, gen au das ist auch die Forderung der Stunde an Sie: Die Zeit der Worte, des Theoretisierens, des gedanklich Geleitet- bzw. von Ihnen vielleicht so empfunden Gegängeltseins in der Schule ist vorbei. Im Beruf oder im Studium, weiterhin umfassend in Ihren gesamten Lebensumständen, die Sie nun immer mehr selbst in die eigenen Hände nehmen können und müssen, aber insbesondere in Ihrer Position in unserer Gesellschaft, in "diesem unserem Staat", werden vermehrt Entscheidungen, Taten von Ihnen gefordert. Ich wünsche Ihnen und damit eigentlich vermittelt uns allen, dass Sie in dieser, Ihnen vielleicht zunächst ungewohnten Situation, erfolgreich bestehen können.
Und lassen sie mich noch einmal Goethe zitieren, der im Folgenden (sie werden es am scheinbar fehlenden Reim hören) seine Verse mit der Selbstverständlichkeit, die uns leider inzwischen abgegangen ist, in seinem - dem hessischen - Heimatdialekt geschrieben hat und der auch hier seinem Unbehagen an einer zu theoretischen Bildung Ausdruck verschafft, wenngleich etwas prosaischer als im "Faust":
In diesem Sinne: Prosit! Auf Ihr Wohl, auf Ihre zurückliegende Schulzeit, auf Ihr bestandenes Abitur, auf das vor Ihnen liegende Leben. Feiern Sie Ihr Abitur, genießen Sie diese Momente, feiern sie wirklich, nicht virtuell, und dann: wählen und starten Sie ihre neuen Spiele. Aber vergessen sie dabei nicht: Erfolg und High-Score in einem Spiel sind sicherlich erstrebenswert, den eigentlichen Spaß daran aber macht doch das Spielen an sich aus.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, wünsche ich Euch, jedem einzelnen von Ihnen, jedem einzelnen von Euch, alles Gute für die Zukunft, viele und interessante Spiele, insbesondere viel Spaß beim Spielen, aber auch die Fähigkeit, einfach abschalten zu können.