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"Das 'Würde' des Menschen"


Demaskierung des Bewusstseins durch Sprache 


Liebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten, liebe Eltern, Angehörige und Freunde und Bekannte der Abiturienten, liebe Kollegen und ehemaligen Lehrer der Abiturienten

„Das ‚würde’ des Menschen ist unantastbar“. Ja, Sie haben richtig verstanden, und -glauben Sie mir- als Deutschlehrer bin sehr wohl in der Lage, Artikel richtig zu verwenden. „Das ‚würde’ des Menschen ist unantastbar“. Aber ich fordere Sie auf, genau das Gegenteil zu tun, nämlich das „würde“ nicht nur anzutasten, sondern zu meucheln und zu Grabe zu tragen. Verabschieden Sie sich in Würde vom „würde“. Verzichten Sie auf auch von ihnen, auch im Unterricht oft gehörte Äußerungen wie „wenn man mich fragen würde, dann würde ich sagen, möglicherweise ist es am besten…“ usw.

Denn die Funktion solcher sprachlichen Formulierungen ist evident: Es geht um Absicherung, in diesem Fall sogar eine dreifache Absicherung. „Wenn man mich fragen würde“ (zum einen bleibt unklar, wer fragt, zum anderen geschieht es ja sowieso nicht), „würde ich sagen“ (aber auch das ist nur hypothetisch, weil es ja überhaupt nicht so weit kommt), und schließlich noch das relativierende „möglicherweise“, das offen lässt, dass alles doch ganz anders ist. Sie verzichten so auf eine klare Festlegung, und dadurch werden Sie dadurch nahezu unangreifbar und haben eine größere Chance auf Lob und Zustimmung.

Hinter diesen mit etwas Übung sicher schnell zu eliminierenden Worthülsen steckt allerdings mehr ais nur ein bestimmtes Sprachverhalten, es offenbart sich eine Geisteshaltung: Im günstigen Fall lediglich zu geringes Selbstbewusstsein, im ungünstigen Fall die mangelnde Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Ödön von Horvath, ein Literat des 20. Jahrhunderts, der zumindest meinen ehemaligen Grundkursschülern bekannt sein sollte, hat es auf den Punkt gebracht, indem er diese verräterische Funktion von Sprache „Demaskierung des Bewusstseins“ nennt und in seinen Stücken thematisiert.

Aber nicht nur im „würde“ wird diese Geisteshaltung entlarvt, gleiches gilt auch für diverse andere Äußerungen wie „ich denke, man könnte vielleicht …“. Denn auch hier wird keine Position bezogen, sondern lediglich vage spekuliert. Es erfolgt eine doppelte Distanzierung, einerseits durch den Konjunktiv „könnte“ und andererseits durch das unpersönliche, einen selbst nicht verpflichtende „man“.

Liebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten, ich fordere Sie daher auf:

Seien sie konkret, Beziehen Sie Stellung.


Sagen Sie ihre Meinung, Ihre Meinung ist doch wichtig. Sie haben weniger zu verlieren als sie befürchten. Und Sie haben durchaus etwas zu sagen, auch dann wenn Sie nicht gefragt worden sind. Darüber hinaus: Übernehmen Sie Verantwortung und scheuen Sie sich auch nicht zu handeln, wenn gehandelt werden muss.

Ein ganz ähnliches Beispiel, im dem das Bewusstsein durch Sprache demaskiert wird, ist der oft gehörte Satz „Das gibt es doch gar nicht“. Ein beliebter Satz, der merkwürdigerweise genau dann benutzt wird, wenn das, dessen Existenz der Sprecher bezweifelt, offensichtlich und unmittelbar eingetreten ist.  Hier ist die Funktion offenbar, in außergewöhnlichen Situationen die Unzufriedenheit mit dem Realen, gegenwärtig Erlebten auszudrücken. Verstärkt findet sich dieses Sprachverhalten einschließlich der zugehörigen Denkmuster dann im Satz „Das kann doch nicht wahr sein“, der meiner Ansicht nach ein schon fast pathologisches Verhältnis zur Realität ausdrückt. In der nochmals verschärften Formulierung „Das darf doch nicht wahr sein“ kommt zusätzlich noch eine gehörige Portion Arroganz dazu: Sie als Sprecher maßen sich an zu bestimmen, wie die Realität gefälligst auszusehen hat!

Liebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten, ich fordere Sie daher auf: 

Nehmen Sie Geschehen vorurteilsfrei wahr und akzeptieren sie Realitäten.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will hier keinesfalls einem dumpfen Fatalismus das Wort reden, im Gegenteil, der permanente Wandel ist das einzig Beständige dieser Welt und wir haben in diesem Wandel beileibe nicht nur eine passive Rolle, sondern können und sollen ihn aktiv befördern.

Ich stimme da überein mit Erich Fried, jenem Wiener Literaten, der sich in seinem Leben durchaus unangenehmen Realitäten stellen musste und z.B. als Jude gezwungen war, nach England zu emigrieren, dort aber bis an sein Lebensende nicht den Kampf um eine veränderte, bessere Welt aufgegeben hat. In einem seiner eher Aphorismen ähnelnden Kurzgedichte sagt er:

Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.


Vergleichbares findet sich auch in einer intellektuell ganz anderen Ecke, nämlich bei jener auch noch heute, vielleicht auch bei einigen von Ihnen beliebten und nach eigenen Angaben schlechtesten Band der Welt, die ihre Weisheiten und Texte nicht nur von der Bühne herunter schreit, sondern ebenso plakativ wie gewinnbringend auf Postern und T-Shirts vermarktet:

„Es ist nicht Deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Es wär nur Deine Schuld, wenn Sie so bleibt. Weil jeder, der die Welt nicht ändern will, ihr Todesurteil unterschreibt.“


Beiden -wenngleich zu pauschalen Formulierungen- muss ich grundsätzlich jedoch zustimmen, unsere Welt braucht Veränderungen. Aber gerade um aktiv Veränderungen herbeiführen zu können ist es unumgänglich, Realität präzise, treffend und ohne Vorurteile zu betrachten, sie sozusagen da abzuholen, wo sie steht. Denn letztendlich ist nicht die vorurteilsfreie Analyse von Realität, sondern genau die sich in Sätzen wie „Das darf doch nicht wahr sein“ manifestierende Geisteshaltung fatalistisch, weil sie keinen Ansatz beinhaltet, mit der Realität umzugehen geschweige denn sie zu gestalten.

Liebe Abiturientinnen, Liebe Abiturienten, ich fordere Sie daher auf: 

Werden sie aktiv, gestalten sie ihre und unser aller Zukunft.


Verabschieden sie sich deshalb auch von Begriffen wie „eigentlich“ oder „irgendwie“, die ebenfalls in unserer Sprache - und, wie schon dargestellt, nicht unwesentlich problematischer - in unserem Denken einen breiten Raum einnehmen und gleichfalls eine Unbestimmtheit manifestieren. „Eigentlich kann ich das ...“ ist lediglich ein schöner Euphemismus und heißt genau genommen nichts anderes als „Konkret bzw. gegenwärtig kann ich das nicht...“. Und wenn ich nur „irgendwie“ „etwas“ zum besseren verändern will, dann zeigt sich darin eben das Fehlen eines konkreten Zieles genauso wie das eines gangbaren Weges, sodass ein Scheitern programmiert ist.

Liebe Abiturientinnen, Liebe Abiturienten, sie sind nicht gescheitert. Sie alle haben ihre Schulzeit nun erfolgreich abgeschlossen, und ich bin sicher, dass sie das, was von Schulgesetzen und Rahmenplan gefordert ist, erworben haben.

Der von mir in einer meiner letzten Abireden zitierte Georg Christoph Lichtenberg, der von 1742 bis 1799 lebte und als Professor für Physik nicht nur den Naturwissenschaften verbunden war, sondern zugleich den Prozess der Aufklärung mit seinen scharfzüngigen Aphorismen vorantrieb, wirkt reichlich antiquiert mit seiner vor über 200 Jahren getätigten Äußerung „Es ist unglaublich, wie unwissend die studierende Jugend auf die Universitäten kommt.“ Ja, ich bin überzeugt, für Sie ist dieser Satz nicht zutreffend. Ich bin zuversichtlich, dass Sie nicht unwissender und unfähiger als Schüler anderer Schulen auf die Universitäten kommen. Egal ob Sie in den Beruf oder in ein Studium gehen, Sie sollten und können das selbstbewusst tun, egal wo, ob Sie den Schritt von Spandau nach Berlin, London, New York, Peking oder Stöckey im Südharz lenken.   Meine Zuversicht und meine besten Wünsche begleiten Sie.

Überhaupt mutet Lichtenberg anachronistisch an: Welch muffige Vorstellung von Schule, einer Schule, in der Wissen gelehrt und gelernt wird! Denn Schule hat sich in den letzten Jahren nicht unwesentlich geändert. Schließlich geht in Zeiten von Klippert und Pädagogischer Schulentwicklung zwar durchaus noch um Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, aber eigentlich aber eher um Kompetenzen, denen allen pädagogischen Diskussionen, Rahmenplänen und Ausführungsvorschriften immer wieder gehuldigt wird und die einer reinen Wissensvermittlung entgegenstehen. Kompetenzen können nicht vom Lehrer gelehrt, sondern bestenfalls befördert, vom Lernenden nicht gelernt, sonder nur aktiv erworben werden. Der pädagogische Blickwinkel hat sich geändert, auch für uns Lehrer, vom lehren hin zum lernen lassen, vom Unterrichten von Inhalten hin zur Hilfestellung beim Erwerb von Fähigkeiten und Kenntnissen, von der Dominanz der Inhalte zum Primat von Methoden. Bei aller notwendigen Kritik: Verkehrt ist dieser Paradigmenwechsel nicht.

Aber nicht nur Schule, auch Sie haben sich während der Jahre hier geändert, stärker als ich es von anderen Jahrgängen gewohnt bin. Schließlich gehörten einige von Ihnen zur ersten 5. Klasse am Kant, liebevoll „unsere Kleinen“, „Teletubbies“ oder ähnlich genannt. Ich erinnere mich auch noch an unsere erste Begegnung: Es war bei einer Probe zu einem Musikabend bzw. einer anderen Aulaveranstaltung, als einige von Ihnen aufgeregt und begeistert auf die Bühne stürmten und mir nichts besseres dazu einfiel, als von der 8x1,50m-Staffel zu sprechen. Ein -zugegeben- despektierlicher Ausdruck, für den ich Sie heute ganz offiziell um Entschuldigung bitte. Schließlich waren Sie alle für unsere Verhältnisse sehr klein, nicht nur die betroffenen acht von ihnen!

Später unterrichtete ich etliche von Ihnen in der 7. Klasse in Deutsch, dann hatte ich wieder in der 10. Klassenstufe erneut mit Ihrem Jahrgang zu tun, Mathematikunterricht in der Klasse des unvergessenen Kollegen Berger und Deutsch in einer Parallelklasse, dort mit ungeahnten Konsequenzen, einem Trauma, das mich all die Jahre verfolgt hat, aber dessen ich mich heute noch zu entledigen trachte.

Schließlich verbrachten wir in der Oberstufe viel Zeit miteinander, in von Ihnen angeregten, gut frequentierten und engagiert arbeitenden Philosophie-AG, im Grundkurs Deutsch und vornehmlich im Leistungskurs Mathematik. Ich hoffe, es ist es mir im Leistungskurs gelungen, Ihnen über Inhalte, Methoden und Kompetenzen hinaus das zu vermitteln, was der bereits erwähnte C.F. Lichtenberg in anderem als den oben zitierten Zusammenhang mit „Mathematik ist eine gar herrliche Wissenschaft“ treffend beschrieben hat.

Nicht jeder von Ihnen wird Lichtenberg zustimmen, die Debatte darüber wird gerade in diesem Jahr der Mathematik an vielen Stellen engagiert geführt. Auch hier an der Schule haben wir uns damit befasst, z.B. beim Vortrag von Prof. Behrends von der Freien Universität, dem -wie ich finde-  es hervorragend gelungen ist, die „Faszination Mathematik“ einem heterogenen Publikum in der Aula zu vermitteln.

Einen weiteren, lesenswerten Beitrag zu dem Thema hat der etlichen von Ihnen aus den Deutschunterricht als Lyriker bekannte Hans-Magnus Enzensberger, von dem heute auch noch in anderen Zusammenhang zu reden sein wird, verfasst. Sein Aufsatz „Zugbrücke außer Betrieb, oder die Mathematik im Jenseits der Kultur (eine Außenansicht)“ setzt sich mit dem Bild der Mathematik und des Mathematikers sowie dem Mathematikunterricht an der Schule auseinander. Nun schätzt Enzensberger sehr die Mathematik, wie es auch schon eine Reihe anderer Literaten vor ihm taten, etwa in dem Sinne, wie ihn Novalis treffend formuliert hat: „Man kann ein großer Rechner sein, ohne die Mathematik zu ahnen.“ Enzensberger kommt so -wenig verwunderlich- zu dem Ergebnis, „dass sich in der Schule ein rein instrumentelles Verhältnis zur Mathematik durch- und festgesetzt hat, […] dass man gute Noten erzielen kann, ohne eigentlich verstanden zu haben, was man tut“ und er konstatiert: „Mit mathematischem Denken hat das alles nichts zu tun. Es ist so, als würde man Menschen in die Musik einführen, indem man sie jahrelang Tonleitern üben lässt.“

Ich hoffe, im Leistungskurs haben wir wenigstens hin- und wieder gemeinsam musiziert, so dass Sie jetzt in der Lage sind, im Orchester zu spielen oder einfach frei zu improvisieren.iebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten, ich bitte um Entschuldigung, dass mein Rückblick auf Ihre Schulzeit, auf die gemeinsam verbrachten Jahre nicht jeden einzelnen gleichermaßen mit einbeziehen konnte, dazu war der Kontakt zu Ihnen zu unterschiedlich. Diese gemeinsame Zeit am Kant-Gymnasium geht nun heute zu Ende, auch wenn Ihre originelle und nützliche Idee, alle Gänge des Stammhauses mit passenden Namen zu versehen, die Erinnerung an den Abijahrgang 2008 auf Dauer aufrecht erhalten wird. 

Ich wünsche mir, dass sie viel von dem hier Erworbenen nutzbringend in ihr weiteres Leben mitnehmen können, und dazu gehören auch meine Aufforderungen aus dieser Rede:

Seien sie konkret, beziehen Sie Stellung.
Nehmen Sie Geschehen vorurteilsfrei wahr und akzeptieren sie Realität.
Werden sie aktiv, gestalten sie ihre und unser aller Zukunft.


Bevor ich Sie nun in den weiteren Ablauf der Feierstunde entlasse, bitte ich darum, mein Gewissen erleichtern zu dürfen. Die Betroffenen warten sicherlich schon darauf und haben die entsprechenden Anspielungen verstanden. Es ist etwas ganz konkretes, ganz materielles und handfestes, was mir da auf dem Herzen und vor mir auf dem Pult liegt, nämlich ihr „Gras“. Den nicht Betroffenen sei zur Erläuterung gesagt, dass es sich dabei um eine Hausarbeit aus der damaligen 10a zum Gedicht „Freizeit“ von Hans-Magnus Enzensberger handelt. In diesem Gedicht geht es um sinnvolle Beschäftigung mit der Vergangenheit und der Gegenwart, vermittelt über Metaphern wie „Gras über eine Sache wachsen lassen“, „Ins Gras beißen“ oder „Das Gras wachsen hören“, daher und nur daher erklärt sich der Begriff „Das Gras“. Nun ja, versprochen ist versprochen, was lange währt, wird endlich gut, und ich werde es mir nicht nehmen lassen ihnen ihre Text jetzt, nach nicht einmal knapp vier Jahren, endlich zurückzugeben.
Und dann habe ich wirklich nichts mehr zu sagen als meine traditionelle Abschiedsformel, die trotz nahezu jährlicher Wiederholung noch immer ernst gemeint ist und auch für ihren Jahrgang von Herzen kommt: 

Ich wünsche Ihnen allen, jedem einzelnen von Ihnen, Ich wünsche Euch allen, jedem einzelnen von Euch, alles Gute für den weiteren Lebensweg. 


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