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"Versuchen Sie nicht, das zu tun, was man von Ihnen erwartet"


Ein Zeichen setzen - Mut zum Anderssein


Liebe Abiturienten, liebe Eltern, Angehörige und Freunde der Abiturienten, liebe Kollegen und -nicht zuletzt auch- liebe Schüler und damit künftige Abiturienten!

Wenn ich Ihnen, liebe Abiturienten des Jahrganges 1984, zum Abschluss Ihrer Schulzeit, sozusagen erneut an der Schwelle der Tür stehend, hinter der wieder einmal der sogenannte "Ernst des Lebens" beginnt, einen gut gemeinten Rat geben darf, so möchte ich Ihnen empfehlen: 

„Versuchen Sie nicht, das zu tun, was man von Ihnen erwartet!“

Das mag vielleicht etwas überraschend oder sogar unverständlich klingen. Daher will ich Ihnen mit einigen Worten erläutern, wie sich in mir die Absicht verfestigt hat, Ihnen ausgerechnet diesen Rat mit auf Ihren weiteren Lebensweg zu geben. 

Begonnen hat alles damit, dass ich mich hatte überzeugen lassen, diese Abiturrede zu verfassen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir nämlich noch gar keine Vorstellungen gemacht, welche Schwierigkeiten mich dabei erwarten, das wurde mir erst nach und nach entsetzlich klar. Immerhin handelt es sich bei Ihrer Verabschiedung um einen festlichen Akt, anlässlich dessen ich nicht nur Belangloses schwafeln kann, es wird zu Recht erwartet, dass Gewichtiges, zumindest aber Bedeutungsvolles vorgetragen wird. Damit aber nicht genug der Erwartungen: Von einem Deutschlehrer wird selbstverständlich auch bezüglich Form und sprachlicher Gestaltung etwas Besonderes erwartet. Somit war ich vor die schwierige Aufgabe gestellt, mir etwas einfallen zu lassen, das zumindest den Anschein von Gelehrsamkeit vermittelt, etwas, das einem Bildungsbürger gut ansteht. 

Also, nichts wie hin zum Bücherregal. Her mit den geflügelten Worten für die Poesie- Alben, den Zitaten- und Anekdotensammlungen. Was ist denn sonst noch brauchbar? Wie wäre es denn mit Kant? Das ist doch sehr beziehungsreich, aber andererseits vielleicht doch etwas zu schwierig und eigentlich auch nicht geeignet, in einer kurzen Rede pauschalisiert vorgetragen zu werden. Welche Erwartungen sind eigentlich überhaupt zu erfüllen? Sicherlich sollte ich etwas vortragen, das die Eltern anspricht. Das müsste dann aber genau deren Empfindungen bezüglich des Abiturs der Kinder treffen, also irgendwie die Themen: "Erwachsenwerden", "Zukunft", "Verantwortung" behandeln, und zwar einerseits wohlwollend, aber andererseits auch nachdenklich. Wie wäre es denn mit Theodor Fontane: "Die Alten und die Jungen". Das ist doch genau das richtige: 

 

Ob unsere Jungen, in ihrem Erdreisten, 
Wirklich was Besseres schaffen und leisten, 
Ob dem Parnasse sie näher gekommen 
Oder bloß einen Maulwurfshügel erklommen, 
Ob sie, mit anderen Neusittenverfechtern, 
Die Menschheit bessern oder verschlechtern, 
Ob sie Frieden sä'n oder sturm entfachen, 
Ob sie Himmel oder Hölle machen - 
Eins lässt sie stehen auf siegreichem Grunde: 
Sie haben den Tag, sie haben die Stunde.
Der Mohr kann gehen, neu Spiel hebt.an, 
Sie beherrschen die Szene, sie sind dran. 

 

Ja, das ist gar nicht schlecht, wenngleich am Schluss vielleicht auch etwas übertrieben, zu viel des Lobes, aber andererseits feinsinnig, humorig und den junger Leuten wohlgesonnen. 
Nur leider fehlt irgendwie die feierliche Komponente. Außerdem ist dieses Gedicht recht einfach in seiner Aussage zu verstehen. Ihnen, liebe Abiturienten, sollte ich doch etwas vorsetzen, das schwieriger, gehaltvoller, nicht so verständlich erscheint, dass nicht jeder Schüler der Sekundarstufe I auch schon zu begreifen meint. Wie wäre es sonst um die "gesteigerten Anforderungen der gymnasialen Oberstufe" bestellt? Dafür eignet sich eher Hermann Hesse. Da muss doch etwas zu finden sein, zum Beispiel im Anhang zum "GlasperlenspieI", das Gedicht "Stufen": 

 

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, 
An keinem wie an einer Heimat hängen, 
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, 
Er will uns Stuf um Stufe heben, weiten. 
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise 
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen, 
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, 
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. 

 

Oder ist das doch zu pathetisch, eventuell sogar zu langweilig? 
Vielleicht wird von mir auch eine Provokation erwartet, ein gediegener Skandal! Manchem spreche ich bestimmt voll aus dem Herzen, wenn ich eine rücksichtslose Abrechnung mit Ihrem Abiturientenjahrgang liefere. Wer sich damit nicht identifizieren kann, der hat ja immer noch die Möglichkeit, sich angemessen zu echauffieren. Und Sie, liebe Abiturienten, die eigentlich Angesprochenen, fühlen sich letztlich auch nicht betroffen, da Sie sowieso meinen, über den Dingen zu stehen. Nun heißt es nur noch, einen geeigneten Text zu finden, vielleicht etwas Modernes? Böll" Grass, oder gar Enzensberger? Ja, Hans - Magnus Enzensberger: "Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer": 

 

seht in den spiegel: feig, 
scheuend die mühsal der wahrheit, 
dem lernen abgeneigt, das denken 
überantwortend den wölfen … , 
ihr, einladend zur vergewaltigung, 
werft euch aufs faule bett 
des gehorsams, winselnd noch 
lügt ihr, zerrissen 
wollt ihr werden. ihr 
ändert die welt nicht. 

 

Aber vielleicht ist das doch etwas zu scharf formuliert, es trifft auf Sie, liebe Abiturienten, auch nicht so ganz zu. Außerdem stören solche Sätze doch empfindlich die festliche, feierliche Atmosphäre. Eigentlich ist auch dieser Text nicht geeignet, die Erwartungen zu erfüllen, also heißt es: weitersuchen, weitersuchen, weitersuchen. 
So wurde mir nach und nach immer deutlicher vor Augen geführt, wie schwierig es ist, fremde Erwartungen erfüllen zu wollen. Dennoch dauerte es einige Zeit, ehe ich mir die wichtige Frage stellte, ob es denn überhaupt sinnvoll sei, sich fremden Erwartungen zu prostituieren, und noch ehe ich die Antwort 

"Versuchen Sie nicht, das zu tun, was man von Ihnen erwartet!“ 

fand, reifte mein Entschluss, Ihnen, liebe Abiturienten, an dieser Stelle meine Überlegungen mitzuteilen. Später bemerkte ich, dass dabei allerdings noch die Frage offen bleibt, ob dieser Rat überhaupt praktikabel ist. Kann man sich wirklich den fremden Erwartungen, die ja in den verschiedensten Ausprägungen und in unterschiedlicher Intensität ständig an jeden von uns herangetragen werden, voll und ganz entziehen? Sollte das möglich sein: Wie hat man sich konkret zu verhalten?

In meinem Falle, bezüglich dieser Abiturrede, ist die Antwort nicht allzu schwer. Denn wenn sowohl Nachdenkliches, Belehrendes, Humorvolles, Würdevolles und selbst Provokatives erwartet wird, dann ist es vielleicht überraschend und unerwartet, wenn ich Ihnen, liebe Abiturienten, die beiden Dinge sage, die ich Ihnen ursprünglich sagen wollte, nur aber zunächst zurückgestellt hatte, da sie so einfach, fast banal, zumindest aber abgedroschen klingen, dass eigentlich jeder sich scheut, sie in öffentlicher Rede zu formulieren. 

Erstens: Ich freue mich, Ihnen, liebe Abiturienten des Jahrganges 1984, zu Ihrem bestandenen Abitur gratulieren zu können. Ferner freue ich mich über das Interesse, das Ihnen entgegengebracht wird, sowohl von Ihren Eltern, Angehörigen und Freunden als auch von Ihren inzwischen ehemaligen Lehrern. Besonders erfreut allerdings registriere ich das Interesse vieler Ihrer ehemaliger Mitschüler, der Schülerschaft des Kant- Gymnasiums. Sie sind doch die eigentlichen Gäste dieser Feierstunde, da sie, im Gegensatz zu Eltern, Angehörigen und Lehrern, keinen unmittelbaren, eigenen Grund zum Feiern und zur Freude haben. Glücklicherweise ist es ja zumindest einigen wenigen ermöglicht worden, an dieser Feierstunde teilzunehmen und somit ihr Interesse zu bekunden. In diesem Sich-Beteiligen und Beteiligt-Sein-Wollen manifestiert sich doch eigentlich die Gemeinsamkeit aller an der Schule beteiligter Gruppen, die uns so wichtig ist, weil sie über das materielle Prinzip der Schule, Broterwerb für die einen - maximale Vorbereitung auf den Broterwerb für die anderen, hinausweist. 

Aber ich freue mich nicht nur für Sie und über Ihren Erfolg. Ich möchte mich auch mit Ihnen freuen, aber dafür ist mir der Grund Ihrer Freude nicht transparent genug. Wir alle, auch meine Kollegen und Ihre Eltern, fühlen die Erleichterung, nun von den Belastungen des Abiturs befreit zu sein, das gesteckte Ziel erreicht zu haben. Ihre Freude darüber wird daher sicherlich allgemein geteilt. Verstehen, aber nicht mehr teilen, kann ich Ihre Freude, wenn diese auf der Annahme beruht, nun dem Druck von außen gesetzter Anforderungen, dem Leistungsdruck, den Zwängen, Belastungen und Unfreiheiten entkommen zu sein. Denn diese Freude wird nicht lange währen, spätestens mit dem Beginn des Studiums oder dem Eintritt ins Berufsleben, sei es zur Ausbildung oder zur Annahme irgendeines kurzfristigen Jobs, stellen sich wiederum Zwänge ein, die auch nicht leichter zu ertragen sind als die der Schule, von denen Sie nun befreit sind. Nachdenklich dagegen würde es mich stimmen, wenn Ihre Freude vorwiegend aus dem Gefühl entstanden wäre, nun endlich in der Lage zu sein, "die Sau herauslassen zu können", oder, um es in gehobenerer Sprache zu formulieren, den aufgestauten Aggressionen freien Lauf lassen zu können. Ich würde Ihnen diese Freude nicht verübeln. Aber es wäre wohl ein überdeutliches Zeichen, sich zu überlegen, was in Ihrer Erziehung, für die wir, Lehrer und Eltern, die wir hier sitzen, ein gutes Maß an Verantwortung tragen, falsch gemacht haben. Was muss sich da in Ihnen angestaut haben, wenn Sie, wie es ja von anderen Abiturfeiern her bekannt ist, nicht einmal die elementarsten Regeln des Umganges miteinander beachten. Oder ist es uns so wenig gelungen, Ihnen positive Verhaltensweisen überzeugend zu vermitteln? Der zweite Teil der Abiturfeier wird zumindest gewissen Aufschluss geben. 

Zweitens: Sie, liebe Abiturienten des Jahrganges 1984, werden mir besonders in Erinnerung bleiben, Sie sind für mich keine Schülergeneration wie jede andere. Als auch Mathematik unterrichtender Lehrer weiß ich, dass man jede Behauptung beweisen, zumindest aber plausibel erklären muss. In diesem Falle ist das nicht besonders schwierig: Ihre schulische Laufbahn bis zum heutigen Abschluss ist eng mit meiner schulischen Laufbahn am Kant- Gymnasium verbunden. Als ich nämlich als Referendar, selbst in Ausbildung befindlich, dem Kant- Gymnasium zugewiesen wurde, waren Sie mehrheitlich gerade in die 9. Klasse gekommen. Einige von Ihnen waren die ersten „Opfer" meiner Unterrichtstätigkeit, die sich zunächst auf eine halbe Klasse, nämlich die Mathematik- Teilungsgruppe 9BT, beschränkte. Leider sind von den elf Schülern dieser Gruppe heute nur noch fünf übrig, denen in wenigen Minuten das Abiturzeugnis ausgehändigt wird. Ähnlich ist die Erfolgsquote, nämlich knapp 50%, auch für die Klasse, mit der sich für mich die meisten Erinnerungen bezüglich Ihres Abiturientenjahrganges verbinden, der ehemaligen l0c. Vielleicht geht es den Betroffenen ähnlich, ich für meine Person denke eigentlich gern an die Tage des Februars 1982 in Wien zurück, z.B. an die Wanderungen, die Besichtigungen der Schlösser und Kirchen, die gemeinsam verbrachte Zeit im Hawelka, der Arena und dem Jugendgästehaus. Weniger gern, wenn auch nicht ungern, denke ich dagegen an meine vielen Lehrproben und Vorführstunden, speziell die damit verbundenen Belastungen und Probleme, die ich aber, nicht zuletzt dank Ihrer Hilfe, Ihrer engagierten Mitarbeit im Unterricht, zumeist erfolgreich bewältigen konnte, bis hin zur zweiten Staatsexamensprüfung, an der für den schriftlichen Teil die 10bT für den praktischen Teil die l0c beteiligt waren. Rückblickend kann ich heute sagen, dass die in dieser Zeit gesammelten Erfahrungen, nicht nur die aus den Lehrproben, für mich insofern wichtig waren, als sie meine grundsätzliche Einstellung der Schule und dem Unterricht gegenüber entscheidend mitgeprägt haben. 

Letzteres gilt selbstverständlich in besonderem Maße für meinen Leistungskurs Mathematik, mit dem ich, einschließlich Profilkurs und Fundamentalbereich, weit über zwei Jahre zusammengearbeitet habe. Ich wähle hier ganz bewusst den Ausdruck "zusammengearbeitet", da nicht nur Ihr, liebe ehemalige Leistungskursschüler, sondern auch ich in dieser Zeit viel dazugelernt habe. Und nicht nur das, bei Euch hat mir das Unterrichten fast immer Freude bereitet und Spaß gemacht. Dabei denke ich nicht nur an die beeindruckend präzise, zuverlässige und wirklich mathematische Arbeitsweise des Schülers, der keinen Sachverhalt als plausibel gegeben hinnahm, sondern stets einen exakten Beweis verlangte, sondern auch an die vielen fachlichen Diskussionen, zu denen ich mich durch das Hinter- fragen von Spezial fällen und das bohrende, zuweilen beinahe lästige Nachfragen eines anderen Schülers immer wieder gern zwingen ließ. 

Aber nicht nur Fachliches, sondern insbesondere Menschliches, wie z.B. jene Heiterkeit und jenes Lachen, das im Profilkurs Mathematik manche Stunde so dominierte, dass beinahe kein Unterricht mehr möglich war, bleibt in Erinnerung. Gerade auf dieser Ebene der Erinnerung gäbe es viel mehr zu berichten, als es in diesem Rahmen möglich ist. 
Außerdem gehört das Sich - an - Vergangenes - Erinnern vielleicht doch zu den von Ihnen erwarteten Teilen der Rede, und getreu meinem anfänglichen Rat 

"Versuchen Sie nicht, das zu tun, was man von Ihnen erwartet!" 

werde ich nun damit aufhören, auch wenn es mir persönlich wichtig war, Ihnen meine Freude über Ihr bestandenes Abitur und meine positiven Erinnerungen an Ihren Abiturientenjahrgang mitzuteilen. 

Überhaupt erscheint mir nach dem Vorangegangenen mein anfänglicher Rat dringend der Überarbeitung bedürftig, in der bisherigen Form, in dieser Pauschalität, ist er schwerlich aufrecht zu erhalten. Leicht modifiziert bzw. konkretisiert kann er dagegen durchaus als ein brauchbares Motto angesehen werden: 

"Versuchen Sie nicht, nur deshalb etwas zu tun, weil es erwartet wird!“ 

Anders ausgedrückt, vielleicht verständlicher: Lassen Sie sich, liebe Abiturienten, nicht fremdbestimmen, machen Sie sich nicht zum opportunistischen Diener fremder Interessen, gleich welcher Art diese auch immer sein mögen. Versuchen Sie vielmehr, mit Hilfe Ihrer auch an der Schule erworbener Kenntnisse, Ihrem Wissen, Ihrem "gesunden Menschenverstand" sowie Ihrer Kreativität und Ihrer Phantasie eine ganz eigene, Ihre Position zu finden und diese in der Auseinandersetzung mit den fremden Erwartungen und Positionen zu stärken oder, wenn notwendig, auch zu modifizieren. 

"Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

lautet der von Kant formulierte Wahlspruch der Aufklärung, jener Epoche, die für unsere neuzeitliche Welt so fundamentale Bedeutung hat. 

Aber ich merke schon, dass ich nun doch an dem Punkt angelangt bin, den ich tunlichst nicht erreichen wollte, nämlich beim gebildet Zitieren, beim Erteilen pauschaler Ratschläge als Lebensweisheiten, bei der Erfüllung gewisser Erwartungen. Deswegen will ich nun auch ganz schnell meine Ausführungen beenden, nicht aber ohne Ihnen, liebe Abiturienten, Erwartungen hin - Erwartungen her, noch einen Wunsch auszusprechen: 

Ich wünsche Ihnen, ich wünsche Euch, jedem Einzelnen von Ihnen, jedem Einzelnen von Euch alles Gute für den weiteren Lebensweg ! 

 
 
 
 
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